Gesellschaft für Informatik e.V.

Lecture Notes in Informatics


INFORMATIK 2009 - Im Focus das Leben P-154, 802-809 (2008).

Gesellschaft für Informatik, Bonn
2008


Editors

Stefan Fischer, Erik Maehle, Rüdiger Reischuk (eds.)


Copyright © Gesellschaft für Informatik, Bonn

Contents

Wie viel Computer steckt unter der Haut? Zur Geschichte der Patientensimulatoren

Constantin Canavas

Abstract


Igor atmet, hebt den Thorax, klimpert mit den Augen, spricht zu den Personen, die ihn umgeben, schwitzt, uriniert, bekommt Krampfpanfälle und andere Krankheitssymptome, beginnt zu bluten - und gelegentlich stirbt. Nur arbeiten kann er nicht, auch keine Treppe steigen. Aber kann ein bettlägeriger Mensch mehr als Igor? Igor ist ein moderner Patientensimulator - 80 kg schwer, lebensecht, eins von den Modellen, die in den letzten Jahren vorwiegend zu Schulungszwecken entwickelt wurden. Seine Aufgabe besteht in der Repräsentation physiologischer Körperfunktionen. Dies erfolgt zum einen durch seine (zuweilen) verstörende Menschenähnlichkeit - sehr wichtig für die Schulungsaufgabe - zum anderen mit Hilfe eines rechnergestützten Simulationsprogramms und eines Trainers, der dahinter steht. Die Geschichte der Patientensimulatoren verläuft entlang zweier Stränge. Am einen Strang dominiert die Ähnlichkeit mit dem Körperbau eines realen Menschen - von den Wunden-Simulatoren der 1950er Jahre bis zu den Puppen zur Übung der künstlichen Beatmung. Der andere Strang verfolgt die rechnergestützte Simulation von Reaktionsmustern in Zusammenhang mit Hirnfunktionen, dem Blutkreislauf oder den Muskeln - z.B. bei (simulierten) Infektionen, Injektion von Wirkstoffen oder bei anderen äußeren Anregungen. Die Entwicklung der zweiten Kategorie von Simulatoren bis zu den kabellos computergesteuerten Modellpuppen der letzten Jahre - liefert ein anschauliches Bild der Wechselwirkung zwischen Pädagogen bzw. Trainern, Technikentwicklern, Marktakteuren und geschulten oder Laien Techniknutzern. Am Beispiel von Igor (der eigentlich \?iSTAN“ heißt) kann nachgezeichnet werden, inwiefern die Überziehung einer leistungsfähigen Rechenmaschine mit Muskeln und Hautersatz in einer Universitätsklinik die realitätsgetreue Wiedergabe physiologischer Reaktionsmuster unterstützt und welche weitere Entwicklungen von Patientensimulatoren auf dem Markt zu finden sind. Die Wechselwirkung zwischen Simulatortechnik und gesellschaftlichen Normen kann an einzelnen Entscheidungsprozessen hervorgehoben werden, etwa in der meistens virilen Prägung der gegenwärtigen Modelle wie Igor/\?iSTAN, oder in der Festlegung der Körperfunktionen, die simuliert werden. Im Zuge der Propagierung von öffentlichen medizintechnischen Praktiken wie die halbautomatische Defibrillation (PAD) werden schließlich solche Modelle zunehmend durch Laienhände entkleidet und behandelt. Die Realitätsnähe des Simulatorkörpers soll einerseits Hemmungsgrenzen im Umgang mit dem Körper des Anderen zu überwinden helfen. Zum anderen sollen aber autonome medizintechnische Geräte wie der PAD über eine - zumindest für die Laien-Nutzer - undurchsichtige Intelligenz verfügen, welche traditionelle medizinische Entscheidungen übernehmen, wie z.B. die Aus- lösung einer Defibrillationsentladung am Patientensimulator oder am Patienten selbst.


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Gesellschaft für Informatik, Bonn
ISBN 978-3-88579-241-3


Last changed 24.01.2012 22:06:23