Gesellschaft für Informatik e.V.

Lecture Notes in Informatics


INFORMATIK 2009 - Im Focus das Leben P-154, 751-765 (2008).

Gesellschaft für Informatik, Bonn
2008


Editors

Stefan Fischer, Erik Maehle, Rüdiger Reischuk (eds.)


Copyright © Gesellschaft für Informatik, Bonn

Contents

Die Technisierung des Lebens und die Medialisierung der Wissenschaft. Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland

Philipp Aumann

Abstract


Kybernetik ist das Konzept, das dem Wissenstransfer zwischen Biologie und Technik im 20. Jahrhundert wohl die stärkste Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Obwohl sie nie ein feststehendes Forschungsdesign hatte, schlugen der Begriff und die Thesen aus ihrem Umfeld in die wissenschaftliche genauso wie in die außerwissenschaftliche Welt ein, regten die Forschungspraxis genauso wie den öffentlichen Diskurs an. Die Kybernetik entwickelte sich zum regelrechten Hype, wurde mannigfaltig transformiert und teilweise entstellt, so dass 1968, zwanzig Jahre nach der Begründung und am Höhepunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, auf ein Buchtitel bemerken musste: \?Keiner weiß, was Kybernetik ist.“ Am Beispiel der Karriere der Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland möchte ich zeigen, dass die unerhörte Bestrebung, das Leben zu technisieren und die Technik zu vermenschlichen, nicht allein durch die Analyse der wissenschaftlichen Akteure und ihrer Produkte verstanden werden kann, sondern auch die Perspektive der Rezipienten eingenommen werden muss. Weil Kybernetik eine Wissenschaft im Fokus der Öffentlichkeit war, beeinflussten öffentliche Debatten die Etablierung und Entwicklung der wissenschaftlichen Kybernetik. Umgekehrt blieben kybernetisches Denken und Handeln nicht ohne Einfluss auf die Mentalität, die Politik und die Wirtschaft in der Bundesrepublik. Sie prägten Kultur und Gesellschaft in gleichem Maße, wie diese die Kybernetik bedingten. Nur unter Berücksichtigung dieser Wechselseitigkeit lässt sich die Dynamik der Technisierung des Lebendigen verstehen. Kybernetik ist das Konzept, das dem Wissenstransfer zwischen Biologie und Technik im 20. Jahrhundert wohl die stärkste Aufmerksamkeit zuteil werden ließ. Obwohl sie nie ein feststehendes Forschungsdesign hatte, schlugen der Begriff und die Thesen aus ihrem Umfeld in die wissenschaftliche genauso wie in die außerwissenschaftliche Welt ein, regten die Forschungspraxis genauso wie den öffentlichen Diskurs an. Die Kybernetik entwickelte sich zum regelrechten Hype, wurde mannigfaltig transformiert und teilweise entstellt, so dass 1968, zwanzig Jahre nach der Begründung und am Höhepunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, auf ein Buchtitel bemerken musste: \?Keiner weiß, was Kybernetik ist.“1 Nicht nur 1968 traf dieser Satz zu. Auch heutzutage erweckt die Kybernetik die verschiedensten Assoziationen von menschlichen Maschinen und maschinell ergänzten Menschen, von redenden und sich selbst steuernden Autos und technisch substituierten Superhelden im Fernsehen, von Diskussionen über die Existenz eines freien Willens in den Feuilletons, von der Befreiung des Menschen von jeglicher Routinearbeit und dem Verlust der menschlichen Kontrolle über das Leben. Am Beispiel der Karriere der Kybernetik in der Bundesrepublik Deutschland möchte ich zeigen, dass die unerhörte Bestrebung, das Leben zu technisieren und die Technik zu vermenschlichen, nicht allein durch die Analyse der wissenschaftlichen Akteure und ihrer Produkte verstanden werden kann, sondern auch die Perspektive der Rezipienten eingenommen werden muss.2 Nur unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen von Wissenschaft und Öffentlichkeit lässt sich die Dynamik der Technisierung des Lebendigen verstehen. Um diese These zu verfolgen, werde ich zuerst einen Abriss über die Geschichte der Biokybernetik in Deutschland geben, die Versuche schildern, Verhaltensforschung zu quantifizieren und zu technisieren und die Ergebnisse dieser Arbeit technischwirtschaftlich nutzbar zu machen. Anschließend werde ich zeigen, wie die Öffentlichkeit die Kybernetik rezipierte und wie öffentliche Debatten die Entwicklung der wissenschaftlichen Kybernetik beeinflussten. Kybernetisches Denken und Handeln prägten die kollektive Mentalität, die Politik und die Wirtschaft in der Bundesrepublik in gleichem Maße, wie diese die Kybernetik bedingten. Zuletzt stelle ich einige Überlegungen an, inwieweit diese Geschichte der Kybernetik repräsentativ ist für die Technisierung der Lebenswissenschaften im 20. Jahrhundert.


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Gesellschaft für Informatik, Bonn
ISBN 978-3-88579-241-3


Last changed 24.01.2012 22:06:21